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Maria Stephanopoulou: Athos, der Förster

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2020-03-11 2020-03-11 11.03.2020

„Er heilt Durchbohrte, belebt Tote, verkündet Armen Gerechtigkeit“, so steht es in einer der Schriftrollen vom Toten Meer. Gleichsam einen solchen Akt der Wiederauferstehung gestaltet María Stefanopoúlou im Roman ATHOS, DER FÖRSTER. Als was für ein Mensch tritt uns einer entgegen, der bei einer Geiselerschießung zu Tode gekommen ist, danach jedoch –fiktiv, eben in diesem Roman – zurück ins Leben geführt wird? In die Gegenwart zurückgerufen wird er von den Hinterbliebenen, deren Erinnern unablässig um die Frage kreist, welchen Platz er, wenn er denn noch lebte, nun in ihrem Dasein haben würde. So erwächst ihm eine neue Biografie aus den unterschiedlichen Horizonten derer, die ihm nahe sind: Frau, Tochter, Enkelin und viele andere. Das ergibt eine spannungsreiche, unmittelbar aus den dramatischen geschichtlichen Abläufen gespeiste Geschichte.
Eigentlich erscheint dieser „neue“ Athos als der, der er auch vorher war (allerdings bleibt ihm ein Familienname jetzt versagt). Er verlässt nicht den Ort, der ihm zum Verhängnis wurde, er kehrt nicht in seine Heimat nach Evrytanía in Mittelgriechenland zurück. Waldhüter aus Berufung, betreut er weiterhin sein Revier im Chélmos-Hochgebirge, seit jeher und heute längst schon wieder ein beliebtes Ziel für Schmetterlingskundige im Sommer und den Winter über das ultimative Skigebiet im Nordosten der Peloponnes. Allerdings hält er sich nun vorwiegend in einer entlegenen Schutzhütte auf und kommt nur selten in den Schicksalsort herunter. Frau und Tochter waren den fünf schlimmen Tagen von Donnerstag auf Montag, den 13. Dezember 1943, in denen die Wehrmacht Kalávryta erst geplündert, dann niedergebrannt und schließlich sämtliche Männer erschossen hatte – darunter auch Athos‘ zwölfjährigen Sohn –, entkommen und hofften, sich in Athen aus ihrer Versteinerung zu lösen. Wenn überhaupt, ließ sich nur allmählich Abstand von dem Erlittenen gewinnen und nur einzelne Wenige waren bereit, darüber zu berichten, meist erst Jahrzehnte danach.
Auf ein paar kargen Seiten schilderte unlängst Franzéska Níka, wie sie und die anderen in der Schule eingesperrten Frauen sich aus dem in Flammen stehenden Haus retten konnten, wie sie abseits des Ortes die getöteten Männer vorfanden, wie sie sich gegenseitig halfen, die schwere Last zum Friedhof zu schleppen und die Gräber auszuheben, bis zur Erschöpfung. Bei María Stefanopoúlou ist es die Enkelin, die ihrem Großvater nachforscht, in Zwiesprache tritt, gewissermaßen sich in ihn hineinlebt. Sie will mehr über ihn wissen als das von der Großmutter gehörte: „Athos war die verkörperte Unvoreingenommenheit, Selbstlosigkeit und Gerechtigkeit.“ Mit dem schlichten Spruch „Wenn jeder würde so die Menschen lieben / Wie dieser Mann – dann wär das Leben gut!“ will sie sich nicht beschwichtigen lassen. Von der Mutter dann erfährt sie, dass Athos gezögert und letztlich es doch abgelehnt habe, sich den Partisanen anzuschließen. Also fühlt der Großvater sich schuldig wegen unerfüllter Pflicht, diagnostiziert die Enkelin. Nun Ärztin, die sich nach ihrem Auslandsstudium Mitte der 1980er Jahre für Kalávryta als Wirkungsfeld entschieden und am dortigen Krankenhaus eine Abteilung für Schmerztherapie eingerichtet hat, fühlt sie sich zu diesem rigorosen Urteil berechtigt. Im weiteren Gang der Ereignisse (1948 während der mörderischen Gefechte zwischen Regierungstruppen und Demokratischer Armee war Kalávryta erneut zerstört worden) hatte Athos zu den Widerständlern gehalten. Den aussichtslos ums Überleben Kämpfenden wollte er das Töten ausreden. Deren Selbstaufopferung bestärkt ihn in seinem Eigenleben, für das er niemandem Rechenschaft schuldet als sich selber. Zwischen den Fronten verharrend, entgeht er nur knapp seinem Ende. Er bleibt in seiner Bergeinsamkeit, einem Anlaufpunkt für Schutzsuchende. Er bringt auf einer verödeten Fläche Tag für Tag Eicheln in den Boden, immer fünf große Schritte auseinander, nicht zu tief, damit ausreichend Luft hinzukommt, doch tief genug, so dass sie nicht aufgepickt oder weggeschwemmt werden – ein den Nachkommen gefälliges Werk und für ihn zugleich Trauerarbeit. Nicht überrascht, dass gerade ihn eine einzelne Deutsche aufspürt und um Mithilfe bittet. Während man ringsum in ihrer Heimat sich verhält, als gingen die hinterlassenen Trümmer keinen mehr etwas an, ist sie – wider die klägliche Ignoranz offiziellerseits – als bekennende Protestantin bemüht, Not zu lindern und Blockierungen aufzubrechen. Von dem eigenartigen Athos hatte man ihr erzählt. „Es war, als riefe diese Person, die in aller Munde, zugleich vertraut und verschlossen, so unergründlich wie überaus nah und zugänglich war, eine seltsame Ratlosigkeit hervor.“
Filmisch muss man sich diesen Athos, den Griechen, von einem wie Bruno Ganz in einer weiteren Glanzrolle verkörpert vorstellen. Da tritt dem Aléxis Sorbás ein Bruder gänzlich anderen Musters an die Seite: in sich gekehrt, zurückhaltend, uneigennützig. Dem Leben zugetan auf ihre Weise sind beide – und im wahren Leben verankert ebenfalls. Mit Bedacht hat Níkos Kazantzákis aus dem Geórgios Sorbás einen Aléxis gemacht, der by Jove kein Heiliger war angesichts einer raff- und blutgierigen Welt. Die den Forstwirtschaftler Panajiótis Athanasiádis (1910-1943), ihren Großvater, in Athos umbenannt hat, ist unsere Autorin persönlich. Als 2014 ihr Roman ATHOS, DER FÖRSTER, erscheint, feiert ihn Dimítris Maronítis in To Víma mit den Worten, dass hier „der Mythos historisiert und die Historie mythisiert werden“. Das Kalávryta von 1943 ist Geschichte. Mit bewundernswerter Gestaltungskraft lässt María Stefanopoúlou erleben: es geht hier um eine fortdauernde und eine – seit den eingangs zitierten urchristlichen Zeiten – sich unaufhörlich wiederholende Geschichte. Vor ihren ins Heute gestellten Protagonisten bestehen, das ist der hohe Anspruch, den die Autorin mit diesem bewegenden, mit Preisen bedachten Buch erhebt.

Athos, der Förster
Maria Stefanopoulou
Roman
Aus demGriechischen von Michaela Prinzinger
"Άθος ο δασονόμος"

Elfenbein Verlag
Berlin 2019
244 S.